CLOWNINGOTT
Stolpernd das Leben meistern
Es ist schon fast 30 Jahre her, dass ich ein Auslandsstudienjahr in den USA verbracht habe – und dabei auf die Kirchen-Clownerie stieß. Der Anlass kam mir höchst merkwürdig vor. Bei einem Jubiläum des Universitätspräsidenten sollten inmitten der Grußreden, den Häppchen und der Musik zwei Clowninnen ihre Späße treiben. Eine Studentin hatte mich gefragt, ob ich nicht die eine der beiden sein wollte. Ich war begeistert und neugierig und schon steckte sie mich in ein Kostüm mit weiten Hosen und einem riesigen Rüschchenkragen, setzte mir eine giftgrüne Perücke auf und stopfte mir Süßigkeiten in die viel zu großen Taschen. Ehrlich gesagt, ich hatte keine Ahnung, was ich überhaupt machen sollte. Ich war einfach dabei und erlebte mich und die anderen anders als je zuvor. Ich redete überhaupt nicht mehr und war trotzdem mit allen im Kontakt. Augen, Mimik, Gefühle, die dem Körper immer andere Haltungen verliehen, ließen mich umso mehr sprechen, so dass eine unmittelbare Nähe entstehen konnte, über die ich fast erschrak. Der Präsident erhielt von uns eine gigantisch große Krone aus ineinander verknüpften Luftschlangen, die wir ihm feierlich aufsetzen. Alle klatschten Beifall, besonders die Kinder.
Wäre das bei uns in Deutschland nicht despektierlich? Ein Mensch in so einer Funktion nicht lächerlich gemacht? Offensichtlich hatte der US-amerikanische Würdenträger seine große Freude an dem Ganzen. Aber war es dann nicht – umgekehrt – eine viel zu übertriebene Huldigung? Ein bisschen Clownerie, um von den eigentlichen Problemen abzulenken? Spaß muss sein, den Ernst des Lebens haben wir ständig? Und war es wirklich mehr als ein bisschen nette Unterhaltung?
So wird Clownerie oft dargestellt: als Ausgleich zum allzu freudlosen Alltag, als Erheiterung im Zirkus, nachdem einem bei den Trapeznummern fast der Atem stockt, als Hilfe zum Lachen, das ja angeblich nicht nur fröhlich sondern auch gesund und jung und schön macht, als Bestätigung dafür, dass die Schadensfreude doch immer noch die schönste Freude ist. In zahllosen Kursen kann man inzwischen die „Kunst des Stolperns“ erlernen, seine Schattenseiten ans Licht bringen, das innere Kind hervorlocken, das Leben Clown-spielend meistern lernen.
Alles ist funktionalisierbar, die Religion genauso wie die Clownerie, und doch blieb nach jenem Erlebnis so eine Ahnung von völlig anderen Möglichkeiten, sich zu begegnen, sich selbst und die anderen wahrzunehmen, und es blieb so ein klammheimliches Gefühl von schalkhafter Subversivität, jenseits von Moral und doch so direkt und entlarvend. Zu allem hinzu kam die Vermutung, dass die Clownerie gerade an diesem Ort des theologischen Studiums und unter Christinnen und Christen ihren rechten Platz haben könnte.
Inzwischen habe ich mich schlau gemacht, viel nachgelesen über historische und gegenwärtige Clownsfiguren und oft selbst auf der Bühne, im Kirchenschiff, im Publikum als Clownin agiert, mit Pfarrerinnen und Pfarrern, Diakoninnen und Religionslehrern in Workshops das Clownsspiel geübt. Die Ambivalenzen tauchen immer wieder auf, immer wieder muss ich das Missverständnis ausräumen, als wäre Clownerie die nette Unterhaltung, die die Steifheit der restlichen Veranstaltung ertragen lässt, als wäre sie das Lockmittel, das alles attraktiver oder auch erträglicher werden lässt. Meine ersten Nachfragen, wenn ich irgendwo spielen soll, lauten daher immer: „Können Sie auch über sich selbst lachen?“,„Hat die Gemeinde Humor und lacht gerne im Gottesdienst?“ (Eine Pfarrerin hat es sich zur homiletischen Aufgabe in ihrer neuen Gemeinde gemacht, die Gemeinde im Gottesdienst zum Lachen zu bringen. In ihrer letzten Gemeinde war es ihr nicht gelungen!) „Können Sie auch die heiligsten Bräuche und Gegenstände mit einem blinzelnden Auge betrachten?“
Und so habe ich mir eine kleine Phänomenologie des Clownesken erarbeitet. Der Clown bzw. die Clownin spielt nicht, sondern ist Clown und Clownin – mit Haut und Haar, aus dem tiefsten Inneren heraus, mit Leib und Seele. Sie verströmt nichts anderes als das, was Menschsein überhaupt ausmacht: Gefühle als unmittelbarste Reaktionen und als wesentliche Grundlage von Haltung und Handeln; das, was da ist, ehrlich und direkt, übertrieben oder reduziert, aber niemals beschönigt; das Staunen über die Welt und ihre Regeln und Gesetzmäßigkeiten, vor allem ihre Ungesetzlichkeiten; Sehnsüchte und Hoffnungen, auch mal „jemand“ zu sein oder mal jemand ganz anderes zu sein; das Scheitern an den alltäglichen Er- und Überfordernissen; die körperlichen Bewegungsfreuden und die körperlichen Begrenztheiten; Liebe zum Leben; schöpferische Fähigkeiten, die aus dem scheinbaren Nichts alles machen können; die Entdeckung, dass, wenn einem nichts mehr möglich erscheint, sich plötzlich ganz neue Möglichkeiten erschließen.
Was für ein Mensch! Äh, was für ein Clown! Oder wie war das doch gleich: Der Clown im Mensch? Nein: der Mensch ein Clown!
Jesus war so ein Mensch, also so ein Clown. Er konnte das Unmögliche wahrmachen, übers Wasser gehen, heilen und Unmengen von Wasser in Wein verwandeln (die nicht unbescheidene Menge von etwa 3 000 Litern!). Allerdings sind seine Heilmethoden die des einfachen Volkes und im Markusevangelium braucht er auch schon mal zwei Anläufe bis es schließlich klappt. Denn der alsbald Geheilte sieht zunächst nur „Bäume, die wie Menschen umhergehen“(Mk 8, 22-27)! Die allzu stolz werdenden Jünger sollen sich ein Vorbild an Kindern nehmen, das Kleine wird groß, wer sich selbst erhöht, wird erniedrigt, und schließlich werden die Letzten die Ersten sein. Verkehrte Welt! Auf Fragen antwortet Jesus mit Geschichten, die wieder ganz neue Fragen entstehen lassen. Was haben die Hirten wohl bei dem Fest gegessen, das der überglückliche Freund gibt, nachdem er das eine verlorene Schaf endlich wieder gefunden hatte? Warum soll ausgerechnet der skrupellose Richter ein Vorbild sein, der der Witwe nur Recht verschafft, weil sie ihm auf die Nerven geht, aber nicht, weil er ihr wirklich Recht gibt? Und wie, um alles, soll ein Kamel durch ein Nadelöhr passen?
Ein paar Mal macht Jesus Tausende von Menschen mit wenigen Broten und Fischen satt, andere Male feiert er gerne üppig und lässt sich mit sündhaft teurem Öl salben.
Als es darauf ankommt, lässt er sich lieber selbst verspotten, als dass er machtvoll sein Schicksal abwenden würde. In Schimpf und Schande endet er an dem Kreuz, das Paulus als Ausdruck von Torheit interpretiert und daraufhin alle Menschen in der Nachfolge zu Narren. Die Erlösung jedenfalls stellt sich ganz anders ein, nachdem alle die Hoffnung schon längst aufgegeben hatten.
Jesus eignet sich denkbar schlecht, um aus ihm die Heldengeschichte eines Gottessohnes zu machen. Im Gegenteil, der potentielle Störenfried scheint die Geschichte mit seinem Scheitern zu verderben. Man muss sich schon wundern, dass ein so gebrochener Mensch zum Vorbild, zum Ein-für-alle-Mal, zum Heiland wurde. Ausgerechnet!
Ich denke, in unseren Kirchen hat sich mitunter eher ein anderer Jesus und damit ein anderer Gott durchgesetzt: ein starker, herrschaftlicher, allmächtiger, triumphalistischer. Das passte immer schon besser zum Durchsetzungswillen von Einzelnen, Institutionen und von ganzen Staaten. Es passt auch zu dem, was wir das moderne Subjekt nennen: autonom, souverän, frei, unberührbar. Dieses Menschenbild haben wir zu einem Ideal werden lassen. Es wird am besten im freien, selbstsicheren, kämpferischen, unabhängigen und erfolgreichen Mann verkörpert. Gut dazu passen auch solche Eigenschaften wie jung, fit, flexibel, cool und schön.
Gegen diese permanente Selbsterhöhung und Selbstüberforderung steht das scheinbar so unzeitgemäße clowneske menschliche Sein. Es achtet das Kleine, Unscheinbare, Verlorene und interpretiert die Wirklichkeit aus dieser Perspektive, also vom Rand zur Mitte, von der Peripherie ins Zentrum, vom Ausgeschlossenen und Marginalisierten zum Herrschenden und Normgebenden. Insofern ist der Clown und besonders die Clownin eine subversive Figur, eine, die der Welt einen Spiegel vorhält – das aber nicht sarkastisch, sondern liebevoll: schau her, so ist es, aber es ist ja nur menschengemacht und selten wirklich menschlich und insofern könnte und müsste es auch ganz anders sein.
Einmal war ich eingeladen, bei einem Jubiläum ganz in der Art der Feier in den USA, mit meiner schwäbischen Frau Seibold verstecktes Theater zu spielen. Ich wurde über die Hintergründe, die Probleme und die Forderungen einer evangelischen Bildungseinrichtung informiert und nahm mit meinem komischen Hütchen, meinem lila Schößchenkleid und meinem Handtäschle in den Sitzreihen Platz. Die Leute wunderten sich etwas über diese Erscheinung, diese einfache und etwas altmodische Frau unter all den festlich Herausgeputzten, aber man ist ja höflich, und so sagte niemand etwas. Nur Frau Seibold hat alle freundlich begrüßt und schon im Vorfeld ausgesprochen, was alles dachten und niemand sich traute zu sagen: wann es denn anfinge, ob es denn hinterher auch Häppchen gäbe, warum es da so heiß wäre. Und so ging es dann weiter. Als der Landrat sprach, erhob sie sich und stellte eine ganz einfache Frage, eine als normale Kursteilnehmerin, die nie den richtigen Ort finden kann und immer zu spät kommt, weil die Einrichtung nämlich keinen festen Ort hat, sondern immer nur irgendwo zu Gast ist. Beim Dekan hat sie es genauso gemacht, auch beim Ortspfarrer und bei der Leiterin. Frau Seibold hat niemanden bloß gestellt, sie hat nur das gesagt, was die Würdenträger tunlichst zu verschweigen suchten, um das Fest nicht zu stören, um ihr Image zu pflegen, um die Form zu wahren. Das Publikum hat sich irrsinnig gefreut und bald haben auch die Redenden auf diese offenbarenden Fragen und Bemerkungen gewartet, wurden etwas lockerer und nannten auch von sich aus die Dinge eher beim Namen.
Es war lustig, die Realität so anzuschauen, wie sie halt war und dennoch zu feiern. Bis zum Schluss blieb unklar, ob ich nun eine Rolle spielte oder halt so war wie ich war. Ich kann nur sagen: als ich spielte war ich genauso wie ich war, Frau Seibold, die von ihrer Position aus, in der sie nicht so viel zu sagen hat, doch allerhand zu sagen hat, aber auch in der Gefahr steht, sich lächerlich zu machen. Indem sie so offen und geradeaus, so hemmungslos und unbeschönigend ausspricht, was andere allenfalls denken, rührt sie an die Gepflogenheiten, an die herrschenden Regeln und könnte leicht damit scheitern. Erst wenn die anderen merken, dass ihnen ein Spiegel vorgehalten wird, dass sie sich eigentlich selbst nicht so recht glauben und schließlich über sich lachen können, verändert sich das Ganze und neue Möglichkeiten werden realisierbar. Das Verdrängte steht neu zur Disposition.
Ich genieße es jedes Mal, wenn ich solche Rolle spielen darf. Nur darf ich selbst nicht zu sehr in das Geschehen verstrickt sein. Ein bisschen Distanz brauche ich, eine, die mir hilft, auch mich selbst kritisch und die anderen aus verschiedenen Blickwinkeln anzuschauen. Denn Clownerie hat nichts mit Sarkasmus und Schadenfreude zu tun, im Gegenteil: sie lebt aus der Liebe zur Welt und zu den Menschen. Und dann macht es Spaß, die Dinge beim Namen zu nennen, Gefühle zu zeigen, den Menschen direkt in die Augen zu schauen, Impulse aufzunehmen, zu spüren, was gerade ist, ganz im Hier und Jetzt zu sein, und vor allem macht es Spaß, keine gute Figur abgeben zu müssen. Das ist überhaupt das Befreiendste.